Auf der Kykladen-Insel Tinos gibt es wie auch auf Naxos und Paros reiche Marmorvorkommen. Tinos hat mehrere Steinbrüche mit unterschiedlichen Marmorarten bezüglich Struktur, Härte und Farbe: weiß, verschiedene Graustufen sowie grünen Serpentinit.

Marmor ist auf Tinos allgegenwärtig: architektonische Verzierungen, Kriegsdenkmäler, dekorierte Brunnen und marmorgepflasterte Gassen machen das typische Bild der Inseldörfer aus. Über den Haustüren und Fenstern befinden sich Marmorreliefs mit Ornamenten und Darstellungen von Vögeln, Pflanzen und Schiffen mit kleinen Öffnungen zur Lüftung des Innenraumes. Sogar Alltagsgegenstände wurden aus Marmor hergestellt wie Walzen zum Verdichten des Lehms auf den Flachdächern der Häuser, Mörser, Käsepressen und Waschbecken für Wäsche sowie Geschirr, weiterhin Grabsteine auf den Friedhöfen.

 

 

                             

Nachgewiesen ist der Gebrauch von Tinos-Marmor schon im 4. Jahrhundert v.Chr. im Heiligtum von Poseidon und Amphitrite auf der Insel. Marmor aus Tinos wurde auch auf Delos verwendet.

Die Entwicklung des Marmorhandwerks verlief nicht kontinuierlich, je nach den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Positiv wirkte sich die lange venezianische Herrschaft von 1207 – 1715 aus. Die Vorliebe der katholischen Kirche für plastische Dekorationen gab dem lokalen Marmorhandwerk Auftrieb. Grüner Serpentinit aus Tinos wurde Anfang des 14. Jahrhunderts für San Marco in Venedig geordert.

Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Marmor auf Tinos systematisch abgebaut. Im Dorf Pyrgos, dem Zentrum des Marmorhandwerks,  gab es zu Anfang des 20. Jahrhunderts 500 Marmorhandwerker und 100 Arbeiter in den Steinbrüchen.

Mittels  zweier  Marmorsägen an verschiedenen Orten der Insel konnten die Blöcke aus den Steinbrüchen zerteilt werden. Eine wurde mit Wasserkraft betrieben (Ende 19. Jahrhundert), die andere trieb ein Dieselmotor an (1932 – 40). Die Marmorstücke wurden mit einem schwenkbaren Kran auf Boote verladen, die das Material anlieferten oder abtransportierten, auch aus anderen Teilen Griechenlands. In Folge des 2. Weltkriegs und der deutsche Besetzung kamen diese Arbeiten zum Erliegen.

Das Marmorhandwerk wurde traditionell vom Vater zum Sohn weitergegeben. Ganze Familien arbeiteten in den Steinbrüchen und Marmorwerkstätten. Zum Beispiel waren sieben Generationen der Familie Philippotis über 2 Jahrhunderte in diesem Handwerk aktiv. Arbeiten von ihnen gibt es auch auf dem heiligen Berg Athos, in einer Kirche auf Kithera und auf Limnos.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließen sich viele Handwerker in Folge der neoklassizistischen Welle in Athen nieder und gründeten dort Werkstätten, sogar auch in Rumänien, Süd-Russland und in Alexandria.

Eine systematische professionelle Ausbildung in Marmorbildhauerei wurde gegen Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Gründung der Schule der feinen Künste auf Tinos realisiert.

 Heute dauert die Ausbildung 3 Jahre und umfasst die Technik des Handwerks einschließlich der Kopien klassischer Vorbilder, freies und technisches Zeichnen sowie Kunstgeschichte.

In Folge der  Gründung der Royal School of Arts und der Polytechnischen Schule in Athen im 19. Jahrhundert wurde zwischen Marmorhandwerkern und Bildhauern  streng unterschieden. Nichtsdestoweniger gibt es Coexistenzen: angewandtes Handwerk in Form von Grabsteinen, verzierten Brunnen, Ikonostasen u. a. in Kirchen und frei gestaltete gegenständliche und abstrakte Skulpturen aus einer Hand.

Heute ist ein Niedergang der jahrhundertelangen Tradition zu verzeichnen. In der Blütezeit gab es 50 – 60 Steinbrüche auf Tinos.  Heute wird an 2 Orten noch in kleinem Maßstab abgebaut. Viele Marmorhandwerker haben sich wegen Auftragsmangels andere Tätigkeitsfelder gesucht.

(Quellen dieser Zusammenfassung sind: Alekos E. Florakis: H THINIAKH MAPMAROTEXNIA, Athina 2008. Alekos E. Florakis: Museum of Marble Crafts , Athens 2009).